Die Geschichte vom Glückskäferchen
An dem Tag, als ein Käferchen geboren wurde und vorsichtig blinzelnd seine Augen öffnete, klatschte ein großer Regentropfen mitten auf sein Gesicht.
Das Käferchen schüttelte sich erschrocken und versuchte, auf seinen krummen Beinen zum Stehen zu kommen. Aber als es vor dem Regen unter das nächste Blätterdach davonlaufen wollte, flog es mitten in eine Schlammpfütze und wurde pitschnass. Daraufhin beschloss das Käferchen, das von der Welt so begrüßt worden war, niemandem jemals ein Lächeln zu schenken.
Aus ihm wurde ein brummiges Käferchen, das mit düsterer Miene auf einer Blumenwiese einher flog. Es würdigte niemanden eines Blickes und verrichtete schweigsam und mürrisch seine Aufgaben. Wenn die Sonne schien, freute sich das Käferchen nicht daran, dass die Tautropfen auf den Blüten in den schillerndsten Farben funkelten. Es legte sich auch nicht in den Sonnenschein, um sich wohlig und warm darin zu rekeln. Das Käferchen sah auf die ganze Welt, als ob sie voller Regen und Schlamm sei.
Eines Abends, als es wie immer durch die Wiese zu seinem Nachtlager krabbelte, sah es etwas Dunkles zwischen den Grashalmen liegen. Weil sogar ein brummiges Käferchen einen Funken Neugier in sich trägt, lag es lange wach und dachte im Mondlicht über den Schatten im Gras nach. Und am nächsten Morgen fasste es sich ein Herz und stapfte mutig drauflos, geradewegs auf den geheimnisvollen Schatten zu.
Im Gras lag – ein Schmetterling. Auf dem finsteren Gesicht des Käferchens machte sich Erschrecken breit. Denn dieser Schmetterling lag nicht nur hilflos auf dem Rücken, auch ein Flügel hing zerfetzt an ihm herab. Und fehlte ihm nicht ein Beinchen? Der Schmetterling war übel zugerichtet worden. Erschöpft lag er im Gras und blickte dem Käferchen mit traurigen Augen entgegen.
Das Käferchen sah das verletzte Tier – drehte sich um und rannte davon. Es war wohl über den armen Schmetterling sehr erschrocken gewesen. Aber was konnte es schon für ihn tun? Wahrscheinlich würde er im nächsten Regen ertrinken oder in einer Schlammpfütze versinken. So war es nun einmal auf dieser Welt. Und überhaupt, warum sollte ausgerechnet er sich um dieses Geschöpf kümmern, das doch nicht einmal ein Käfer war!
Dennoch musste der Käfer den ganzen Tag über an den Schmetterling denken. Er vergaß sogar darauf, sich über die spitzen Stacheln der Dornenhecke zu ärgern und über die lärmenden Maikäfer-Kinder. Abends krabbelte das Käferchen wie zufällig wieder an der Stelle vorbei, wo der Schmetterling lag. Diesmal waren seine Augen geschlossen. Seine Mundwinkel hingen nach unten und sein Gesichtchen war schmerzverzerrt.
In dieser Nacht sah das Käferchen das Bild des schönen Schmetterlings vor sich, wie er ihn mit flehenden Augen um Hilfe anrief und schließlich ohne Trost in seinem Kummer versank.
Nach diesem Traum beschloss der Käfer, etwas für den Schmetterling zu tun. Ein paar Wassertropfen zum Trinken konnten ja nicht schaden. Er machte sich wieder auf den Weg, formte aus einigen Blättern einen Wasser- Kelch und näherte sich damit vorsichtig dem Schmetterling. Als das Käferchen einige Wassertropfen auf ihn spritzte, öffneten sich die Augen des Schmetterlings tatsächlich! Erstaunt blickte es den brummigen Käfer an und neigte dankbar seinen Kopf, um zu trinken.
Am nächsten Tag kam der Käfer wieder. Diesmal lächelte ihm der Schmetterling schon entgegen. Noch immer lag er auf seinem Rücken und musste große Schmerzen haben. Das Käferchen machte ihm einen wohltuenden Umschlag aus Kräutern und säuberte die Flügel solange, bis sie im Sonnenlicht in all ihren Farben wieder strahlten und funkelten. Als der Käfer die Schmetterlingsflügel von allen Seiten betrachtete, spürte er das erste Mal in seinem Leben ein Gefühl, das er zuvor noch nie gehabt hatte.
Er freute sich.
Von nun an kam er jeden Tag und half dem Schmetterling, so gut er es nur konnte. Er machte ihm ein Bett aus wärmenden Vogelfedern und sammelte leckere Pollen aus den schönsten Blütenkelchen. Die emsigen Bienen wunderten sich zwar sehr darüber, dass ein schwerfälliger Käfer in ihre Blumen gekrochen kam. Aber das Käferchen ließ sich durch nichts beirren. Überall hielt es danach Ausschau, womit es dem Schmetterling eine Freude machen könnte. Sogar die neuesten Witze der Zwerge hörte es sich an, um am Abend mit dem Schmetterling darüber zu lachen.
Der Schmetterling fragte oft danach, was in der Welt außerhalb seines dunklen Graslagers vor sich ging. Er wollte wissen, in welchen Farben sich die Sonne im Waldteich gespiegelt hatte und das Käferchen musste ihm genau schildern, wie viele Lotusblüten darin schon aufgeblüht waren. Nach dem jüngsten Maikäfer-Kind fragte der Schmetterling und ob es sich noch immer nicht zu fliegen getraue. Und auch, ob die kleine Raupe schon so viele Löcher in den Pilz gefressen habe, dass sie bald kein Dach mehr über dem Kopf haben würde.
Das Käferchen musste die Welt für den Schmetterling genau beobachten und sah dadurch vieles, was ihm früher nicht aufgefallen war. Die Farben der Blumen, den Regenbogen in der Sonne und sogar die majestätische Größe der Bäume in all ihrer Blätterpracht, das Herz des Käfers öffnete sich beim Anblick der Welt jeden Tag mehr. Sogar das Gekicher der Maikäfer-Kinder klang wie Musik in seinen Ohren, manchmal wenigstens. Und das Käferchen fand, dass diese Welt nicht nur aus Regen und Schlamm bestand, sondern sogar sehr schön war.
Jeden Abend, wenn das Käferchen mit dem Schmetterling im nächtlichen Mondlicht beisammensaß, dachte es daran, dass aus ihm nun – und das konnte es sich sogar ein wenig brummig eingestehen – ein richtiges „Glückskäferchen“ geworden war.