Eine Geschichte für das neue Jahr aus dem Zaubergarten:
„Das Geheimnis der weißen Blüten“
Dort, wo am anderen Ende der Wiese ein dunkles Moor lag, aus dem ein Gestrüpp an schlammigen Stielen und Dornenhecken hervorwucherte, war kaum ein Bewohner des Tals jemals anzutreffen. Es war eine finstere Gegend und die Wiesenbewohner mieden den Ort, über den meist graue Nebelschwaden zogen und auf den nur ein trübes Licht fiel.
So konnte es geschehen, dass niemand es bemerkte, wie sich aus einem der Moore zaghaft eine kleine grüne Spitze hervorwagte, zunächst nur eine, dann eine andere und wiederum die nächste…
Einem Zwerg, dessen Häuschen am Rande des Moores gelegen war und der auf seinem täglichen Spaziergang vergnügt vor sich hin pfeifend an Schilfhalmen entlangschlenderte, fiel ein helles Blitzen in die Augen. Überrascht blickte er sich rundum und wagte sich schließlich in das hohe Schilf hinein, neugierig, wie er war. Denn es schien ihm, dass das Leuchten aus dem Moor kommen musste. So stapfte er durch morastiges Gras und schob ächzend hohe Halme und Pflanzengestrüpp auseinander, bis sich hinter einer verwachsenen Hecke ein kleiner Teich vor ihm auftat.
Da stand er nun und vor ihm lag ein Moorgewässer übersät mit Blüten, jede einzelne von ihnen in einem Bett aus grünen Blättern, leuchtend und schimmernd in reinstem Weiß und unschuldig in leiser Hingabe auf dem Wasser schwebend.
Der Zwerg, dessen Herz überging vor Staunen und der eine Blüte um die andere anfasste, ob sie wohl echt sei, verweilte lange in der geheimnisvollen Stille, die wundersam über dem ringsum dunklen Moor lag. Dann eilte er fort, um die anderen Wiesenbewohner herbeizuholen und sie an den Ort dieses Wunders zu führen.
So kamen sie von allen Seiten, kämpften sich mühsam durch Hecke, Dornen und Gestrüpp, um schließlich vereint ringsum an jenem Teich im Moor zu stehen, der ihre Herzen im tiefsten Inneren berührte. Sie hielten sich an den Händen in ehrfürchtigem Schweigen und nur das leises Summen der Blüten, die sanft über den Teich schwebten, erfüllte die Luft.
Als sie sich wieder auf den Weg zurück ins Tal machten, in ihre Häuschen, und zu ihren Gärten mit Blumen und Pflanzen, die im Sonnenlicht bei Pflege und Nahrung erblüht waren, dachten sie lange über das Wunder der schönen Moorblüten nach und konnten es sich nicht erklären. Denn so mancher Zwerg, wenn ihm sein Tagwerk zu schwer wurde und die Blüten und Wurzeln nicht so gediehen, wie es ihm im Sinn lag, rang in Gedanken um die Geheimnisse des Lebens …
So machte sich schließlich eine Gruppe von Wiesenbewohnern zu einem auf, der um diesen Zauber wissen musste: dem weisen alten Zwerg in seinem Häuschen unter dem Eichenbaum am Fuße des Tales, dem ältesten unter ihnen. Jene Zwerge, die den Wuchs der Pflanzen lenkten und leiteten, Blumenelfen, die ihre Farben im Sonnenlicht hervorzauberten und auch die Sylphen, die ihnen den Wind zufächelten, Kobolde und Gnome, alle wollten sie um das Geheimnis der leuchtenden Blüten wissen.
Er sah sie schon am Waldesrand, wie sie ihm auf dem Weg zu seinem Garten entgegenkamen, schwebend und flatternd die einen, trippelnd die kleinsten und bedächtig ausschreitend die obersten der Zwerge, über deren Bauch sich die Ornamente ihres hohen Ranges wölbten.
Auf seinem krummen Ast-Stock gestützt, der lange weiße Bart kringelte sich auf die Erde, lag ein leises Schmunzeln auf dem Gesicht des alten Zwerges, als er seine Arme freudig ausbreitete, um sie zu begrüßen. Er geleitete sie an seinen Tisch unter dem Eichenbaum, ein jeder fand seinen Platz rundum und sie aßen und tranken alle, was der weise alte Zwerg an Festmahl aus Beeren, Blüten, Wurzeln und Honigsaft aus seiner duftenden Küche hervorzauberte.
Satt und zufrieden lehnten sie sich dann im warmen Abendlicht der Sonne in ihre Bänke, bis die obersten Zwerge von ihnen zu sprechen begannen. Sie erzählten dem weisen Alten von dem Wunder ihrer Entdeckung, einem Morast aus lauter weißen, strahlenden Blüten inmitten des Nirgendwo, emporgewachsen, ohne je das Sonnenlicht in seinem vollen Glanz gesehen zu haben, ohne die fürsorgliche Pflege von immerwährend emsigen Händen wie den ihren und ohne sorgenvolle Gedanken um ihr Gedeihen. Das Wachstum dieser Blüten, gerade an jenem Ort, war ihnen unerklärlich …
So ließ sich der weise alte Zwerg berichten und ein jeder Wiesenbewohner fragte staunend nach Erde, Wasser, Luft, Farbe und Klang und ob es denn ein tieferes Geheimnis gäbe als jenes, das sie jeden Tag aufs Neue ihren Pflanzen und Blumen angedeihen ließen.
Der alte weise Zwerg hörte einem jeden zu, schweigend und mitunter still lächelnd ob des Eifers und der Verwunderung, mit der sie nach einer Erklärung suchten. Als sie alle geendet hatten und sich die Stille des Abends auf sie legte, meinte der alte Zwerg, mit seiner Rede beginnen zu können. Er blickte reihum jeden liebevoll an und sagte dann bedächtig: „Ihr habt etwas Wunderbares entdeckt! Aus der Tiefe eines dunklen Teiches, nur mit einem kleinen Schimmer Licht, erwächst eine wundersame Blüte, weiß, ohne den geringsten Makel…“
„Wie stark muss ihr Wille zum Leben gewesen sein“, fiel ein kleiner Zwerg ein, der nachdenklich auf sein verkrüppeltes Bein blickte.
„… und wie groß ihre Sehnsucht nach dem Licht…“, ergänzte eine Blumenelfe, die an den Schmutz im Teich dachte.
Ein Kobold, der sich um die Wurzeln seiner Pflanzen sorgte, meinte, dass die Kraft in ihren Trieben wohl unermesslich sein müsse.
„Und wie mutig ihr Streben hinaus aus dem Schlamm in die Freiheit war“, warf eine Luftsylphe ein.
So sprach ein jeder von einem anderen Wunder, das über den weißen Blüten lag und die Liebe zu ihrem Geheimnis wuchs in ihnen.
Der weise alte Zwerg endete schließlich gedankenvoll: „… und wie unzerstörbar dies doch alles ist, wenn es im Vertrauen erwächst, auch inmitten verschlungener Schlammpflanzen aus einem tiefen Morast….“
Schweigend ob all ihrer Gedanken und darüber, was sie erkennen konnten, begannen sie dennoch zu ahnen, dass das letzte Geheimnis der weißen Blüten nicht mit ihren Fragen zu erkunden war. Vielleicht lag es in der Ergriffenheit ihrer Herzen, vielleicht aber in der immer tiefer werdenden Liebe zu ihnen …
So saßen sie reihum am Tisch des weisen alten Zwerges, im Eichenbaum raschelte der Abendwind und silbriger Mondschein fiel auf ihre Tafel. Unter einem weiten Sternenhimmel machten sie sich wieder auf den Weg und der alte Zwerg gab ihnen fürsorglich eine Laterne mit in die Nacht. Er sah ihnen noch lange nach und dachte bei sich, dass doch auch in all diesen Wesen ein Licht lag, das Geheimnis der weißen Blüten…
Und er war sich gewiss, dass es eines Tages aus ihnen allen leuchten würde.
(Anmerkung: Die Lotosblüte, die nur aus dem Schlamm erwächst, wird als ein Symbol für die unzerstörbare Reinheit des Geistes angesehen und in vielen Religionen und Ländern der Welt verehrt.)