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Tausendfüßchens Reise

Tausendfüßchens Reise

Eine ganze Nacht lang hatte ein Tausendfüßchen, das auf einer Wiese hinter einem steinigen Hügel lebte, seine Beine gezählt. Immer und immer wieder, weil es nicht einschlafen konnte. Am Morgen wusste das Tausendfüßchen, dass es um zehn Beine zu viel hatte.

Ein wenig erschrocken war es schon darüber, dass es so aus der Art schlug.

Zuerst hoffte das Tausendfüßchen, dass das niemand herausfinden würde. Aber dann kam ihm der Gedanke, dass es vielleicht dazu bestimmt war, mit seinen vielen Beinchen etwas Besonderes anzustellen. Vielleicht sollte es damit etwas suchen, was noch nie jemand gefunden hatte.

Als das Tausendfüßchen nachdenklich auf einem Stein in seiner Wiese saß, fiel ihm auf, wie düster diese vor ihm lag. Nur selten verirrte sich ein Sonnenstrahl hierher und die Wiese war übersät mit Steinen, so dass das Tausendfüßchen bei ihrem Anblick plötzlich dachte: „Das Schönste auf der Welt wäre doch, wenn aus einem Stein ein Licht strahlen würde!“ Was für ein Gedanke! Gab es das, einen Stein, in dem ein Licht wohnt? Das Tausendfüßchen war von diesem Gedanken so begeistert, dass es beschloss, mit seinen vielen Beinchen auf eine Reise zu gehen, um diesen Stein zu finden.

Von der Wiese aus nahm es einen Weg, der in die weite Welt hinausführte und ging mit seinen mehr als tausend Füßchen auf Wanderschaft. Es marschierte steil bergauf und bergab, in tiefe Täler hinein und durch dichte Wälder hindurch. Viele Steine säumten alle seine Wege, ob sie nun groß und kantig, flach oder klein waren. Aber in keinem Stein konnte das Tausendfüßchen ein Licht sehen, auch wenn es noch so lange darauf blickte oder gar versuchte, hineinzuspähen. Nach vielen Tagen und Wochen war es schließlich müde geworden, und entmutigt. Es setzte sich auf einen Stein, der am Wegesrand lag und dachte darüber nach, ob es nun wieder nach Hause zurückgehen sollte.

Gerade als das Tausendfüßchen sich wieder auf den Weg machen wollte, hörte es neben sich ein leises Rascheln. Kurz darauf steckte ein Schmetterling sein Köpfchen zwischen den Grashalmen hervor und blickte staunend auf die unzähligen Füße des Tieres, das vor ihm auf einem Stein saß. Natürlich wollte der Schmetterling erfahren, was das Tausendfüßchen denn hier mache. So erzählte dieser ihm von seiner Suche nach einem besonderen Stein, aus dem ein Licht leuchten solle. Und dass es schon erschöpft von seiner langen Reise sei, klagte das Tausendfüßchen, und nicht mehr daran glaubte, so einen Stein zu finden.

Der Schmetterling hörte dem Tausendfüßchen bedächtig zu und wiegte dabei seinen Kopf hin und her. Natürlich wollte er dem Tausendfüßchen helfen, aber von so einem Stein war ihm wirklich nichts bekannt. Auch im ganzen hellen Reich des Himmels, wohin er immer wieder flog, würde man wohl einen solchen Stein nicht finden können.

„Aber …!“ Der Schmetterling stockte ein wenig und seine Augen begannen zu leuchten.  Das Tausendfüßchen horchte auf. Hatte der Schmetterling ihm doch etwas zu berichten, von dem er noch nichts gehört hatte?

So begann der Schmetterling zu erzählen. Seine Erinnerung wanderte zurück in eine Zeit, als seine Wiese in brütender Hitze unter sengendem Sonnenschein lag. Zu lange hatte es nicht mehr geregnet, das Gras, alle Pflanzen und Blumen waren verwelkt und die Blätter der Bäume hatten sich braun verfärbt. Auf der Wiese war kein Singen von Vögeln mehr zu hören, kein Brummen von Bienen und Hummeln und auch kein anderes Geräusch. Aus der blühenden Wiese war eine braune, verdorrte Wüste geworden. Der Schmetterling schloss seine Augen vor Traurigkeit, als er davon erzählte. In diesen Tagen war er unter einem vertrockneten Löwenzahnblatt gelegen und hatte sein Köpfchen immer wieder hervorgesteckt, um in den Himmel zu blicken. Aber keine Wolke bildete sich unter der sengenden Sonne, Tag um Tag nicht und Woche um Woche.

Der Schmetterling konnte kaum beschreiben, wie ihm damals unter dem Blatt zumute gewesen war. Als er vor sich hindämmerte, dachte er daran, dass er wohl nicht mehr lange leben werde.

Das Tausendfüßchen war still geworden, als der Schmetterling ihm davon erzählte. Am liebsten hätte er ihn mit seinen mehr als tausend Füßchen umarmt, so viel Trauriges hatte der Schmetterling erleben müssen!

Aber dieser berichtete weiter.

Es kam ein Tag, an dem der Schmetterling nicht mehr unter seinem Blatt liegen bleiben wollte. Wenn schon, dann wollte er noch einmal das Sonnenlicht sehen, bevor er ganz vertrocknete. Als er sich dazu bereit machte und aus seinem Blatt hervorgekrochen kam – platschte ein riesiger Wassertropfen auf ihn! Noch immer schüttelte der Schmetterling ungläubig sein Köpfchen, als er daran dachte. Am Himmel war weit und breit keine Wolke zu sehen und woher der Wassertropfen gekommen war, konnte ihm wohl niemand sagen. Vollkommen überrascht war der Schmetterling und trank sofort vom kostbaren Nass. In den nächsten Tagen blickte er wieder voller Hoffnung zum Himmel und glaubte daran, dass es bald regnen werde.

„Ob es einen Stein gibt, in dem man ein Licht finden kann, weiß ich zwar nicht“, so redete der Schmetterling mit dem Tausendfüßchen. „Aber ich weiß, dass es Wassertropfen auch ohne Regenwolken am Himmel gibt!“

Das Tausendfüßchen hatte nachdenklich zugehört. Es dankte dem Schmetterling für seine Geschichte und verabschiedete sich innig von ihm. Als es sich mit all seinen Füßchen wieder auf den Weg nach Hause machte, rannte es nicht mehr so schnell, wie es sonst seine Art war. Bedächtig schritt das Tausendfüßchen einher und dachte nach, über den Regentropfen, die Wolken und den Himmel.

So kam es ihm in den Sinn, dass es wohl auch Steine geben müsse, in denen ein Licht wohnt. Und dass sie vielleicht gerade dann am Weg liegen, wenn man es am wenigsten erwartete …

 

 

 

 

 

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