Das Märchen von den Geschenken des Himmels
Unter dem schützenden Blätterdach eines Baumes, dessen Krone weit in den Himmel ragte und dessen Äste sich schwer von Blättern bis zur Erde neigten, saß ein Junge. Er saß schon lange da, an den Stamm des alten Baumes gelehnt. Mancher Sonnenstrahl, der durch das Blätterdach fiel, spielte auf seiner Haut und die grüne Wiese unter seinen Füßen war weich. Der Junge liebte den alten Baum sehr. Er strich ihm oft über seine rissige, tief gegerbte Rinde und roch an seinen Blättern. Sie rochen nach frischem Grün und manchmal auch nach den Wassertropfen, die über sie liefen. An manchen Tagen lag der warme Duft der Sonne auf ihnen.
Der Junge fühlte sich unter seinem Baum sehr geborgen, es war sein Zuhause. Der alte Baum stand auf einem Hügel, er stand ganz alleine dort und niemand verirrte sich jemals hierher. Wie von einem einsamen Stern sahen der Junge und der Baum von ihrem Hügel auf das Land hinab, das sich unter ihnen weit bis zum Horizont erstreckte. Manchmal blickten sich die beiden voller Traurigkeit an, denn über dem Land lag ein trostloser Nebelschleier.
In den Städten ragten Häusertürme und Fabrikschlote aus einem trüben Meer aus Dunst und Staub. Der Lärm von Millionen Autos hallte durch ein Straßengewühl, alle wollten schneller weiterkommen. Die Menschen eilten hastig voran, wie von Geisterhand getrieben. Ihre Zeit war knapp. Auf manche Orte hatten sich graue Wolken gelegt und hüllten sie in stickige Schwaden von Leid, Tränen und Gewalt.
Der Junge und der Baum saßen auf ihrem Hügel und beobachteten das Treiben schweigend. Bis eines Tages der Junge nachdenklich sprach: „Mein lieber Baum, was denkst du? Sollten wir den Menschen dort unten nicht etwas schenken, was ihnen Freude macht?“ Der alte Baum nickte zustimmend mit seiner mächtigen Baumkrone und in all seinen Ästen raschelte es.
So suchten der Junge und der Baum Geschenke für die Menschen, die sie in das Land hinunterschicken wollten. Die strömenden Windgesellen, die zwischen den Ästen des Baumes herumtänzelten, wurden als Boten auserkoren.
Der Baum wählte als Gabe ein Blatt aus der Spitze seiner Krone aus, ein in kunstvollen Ornamenten gefasertes Blatt, das in vielen Grüntönen schimmerte und übergab es einem Lufthauch. Der Junge pustete die farbenprächtigen Blüten einer Blume einem Windgesellen zu, anmutig sollten sie in ihrer Schönheit auf das Land hinunterschweben. Einen Vogel, der jeden Tag sein Lied im Blätterwald des Baumes sang, baten sie, in die Stadt zu fliegen und den Menschen seine Melodien zu bringen. Und schließlich fragten sie noch eine weiße Regenwolke, die am Himmel hing, ob sie nicht ihre Wassertropfen auf das Land regnen lassen könne.
Die Windboten sausten ziel gerade und mit entschlossener Miene durch die dunklen Schleier, denn ihr Auftrag und ihre Fracht waren ihnen kostbar.
Als sie über einer Stadt waren, ließen sie die Blütenblätter aus dem Himmel fallen. Diese tanzten und drehten sich in ihrer strahlenden Pracht auf eine Straße und wurden dabei von einer Frau gesehen, die wie immer zur Arbeit hastete. Verwundert blickte sie auf die Blüten, die vor ihr auf die Erde fielen und obwohl sie es eilig hatte, blieb sie stehen und fing sie mit offenen Händen auf. Erstaunt sah sie die bunten Blüten an und strich über ihre Oberfläche. Wie Daunen fühlten sie sich an, samtig und weich, und sie schillerten in Farben, die sie noch nie gesehen hatte. Die Frau steckte die Blütenblätter behutsam in ihre Tasche und dachte den ganzen Weg zur Arbeit an sie.
Auch die kleine Wolke war eifrig über die Stadt geeilt und, obwohl sie eigentlich den schmutzigsten Ort reinigen sollte, ließ sie in ihrer Aufregung ihre Regentropfen über einem Hochhaus fallen. Sie fielen auf die kahle Glatze eines Mannes, der gerade seinen Kopf aus dem Fenster eines der mächtigsten Häuser der Stadt streckte, wohl aus Neugier, weil er sehen wollte, was denn da unten eine Frau von der Straße aufgehoben hatte. Ein heftiger Regenschauer ergoss sich auf seinen Kopf. Triefend und fluchend blickte der Mann in die Höhe und sah dort, wo die kleine Wolke gewesen war, ein Stückchen vom Himmel hervorblitzen. Verwundert blickte er hinauf, denn das Blau des Himmels hatte er durch all die grauen Nebelschwaden noch nie gesehen.
Ein Regentropfen aber war hinunter auf die Straße gefallen, in die Hand eines kleinen Jungen hinein. Dort blieb er liegen und glitzerte wie ein geheimnisvoller Stern im Sonnenschein. Der Junge sah ihn lange an und trug ihn in seiner Hand wie einen Schatz nach Hause. Immer wieder schaute er besorgt nach, ob er wohl noch da sei.
Dabei rempelte er einen Mann an, der durch die Straße eilte, fröstelnd in einem Mantel mit hochgestelltem Kragen und einen Aktenkoffer in der Hand. Als der Junge ihn anstieß, ließ er seinen Koffer fallen. Der Mann hob ihn auf und sah dabei etwas leuchtend Grünes, das vor ihm auf dem Beton lag. Überrascht griff er danach und drehte es verwundert in seiner Hand. Ein Blatt mit solch raffiniert gezeichneten Mustern und Ornamenten voller Harmonie hatte er noch nie gesehen. Sorgfältig legte er das Blatt in seinen Aktenkoffer und dachte lange über seine klaren Formen nach.
Der Vogel, der tapfer den langen Weg zur Stadt geflattert war und sich durch die stickige Luft hüstelte, suchte einen Platz, an dem er sein schönstes Lied jubilieren konnte. Es war ihm bange in dieser Stadt und auch nicht danach zumute, ein Lied zu singen. Aber er war an einer Frau vorbeigeflogen, die von der Schönheit bunter Blütenblätter berührt war und an einem pitschnassen Mann, der erstaunt das erste Mal in den Himmel gesehen hatte. Ein Junge, der mit strahlenden Augen einen Stern in seinen Händen hütete, war an dem Vogel vorbeigelaufen und ein nachdenklicher Mann, der ein geheimnisvolles Blatt mit sich trug. So dachte der Vogel, dass auch er jemanden finden würde, der sein Lied hören wollte.
In den Straßen war kein Baum zu finden, nirgends konnte sich der Vogel niederlassen und so setzte er sich schließlich auf einen Fenstersims an einem kahlen hohen Wohnblock. Lauter Lärm drang aus vielen Wohnungen, die Menschen saßen vor riesigen Geräten und starrten auf die Bildschirme. Als der Vogel zum Singen ansetzte, dachte er hoffnungslos daran, dass ihn wohl niemand hören würde. Trotzdem, er hatte es dem alten Baum und dem Jungen versprochen, und so wollte der Vogel auch sein Lied singen. Nach einigen verstaubten Krächzern lockte er die edelsten Töne aus seiner Kehle hervor, er trillerte und jubilierte durch die Fenster hinein und sang von den wiegenden Ästen des alten Baumes und der Sehnsucht des Jungen nach einer helleren Stadt.
Die Menschen hörten ihn nicht.
Nur ein Mädchen, das allein in seinem Zimmer saß und traurig aus dem Fenster sah, hörte den fernen Gesang in der dunklen Nacht. Überrascht lauschte sie und hörte unbeweglich zu, der feine Gesang drang in ihr Herz. Als sie friedlich einschlief, lag ein Lächeln auf ihrem Gesicht.
In dieser Nacht schwebten Träume über der Stadt, von farbenfrohen Blüten und Himmelsblau, einem glitzernden Regentropfen und grünen Mosaiken, in die sich die Melodien eines Liedes mischten. Der alte Baum und der Junge sahen auf ihrem Hügel die Träume, die aus der Stadt emporstiegen. Sie hingen wie Lichter in der Luft und zierten die grauen Dunstwolken, die ihrem hellen Schein wichen.